Ein Mutterschwein bringt im Schnitt fast zweieinhalb Mal im Jahr jeweils sieben bis 26 Ferkel auf die Welt – und Tiere erleben eine Geburt nicht leichter als der Mensch. „Sie stellt für die Sau eine enorme psychische und physische Belastung dar“, weiß der Veterinärmediziner Prof. Dr. Dr. Hartwig Bostedt, der als Geburtshelfer viele Tiere betreut und an der Justus-Liebig-Universität in Gießen gelehrt hat. Da es keine ausreichende und tiefergehende Informationen über die Schweinegeburt gibt, war es ihm ein Anliegen, sich dieser Problematik anzunehmen und suchte dafür zwei Doktorandinnen – Sarah Blim aus Frankenthal und Desirée Lehn aus Ebertsheim – sowie einen für die Studie geeigneten landwirtschaftlichen Betrieb aus. Aufgrund ihres „gut geführten und kontrollierten Bestands an Mutterschweinen“ fiel seine Wahl auf die Lehr- und Versuchsanstalt für Viehhaltung Hofgut Neumühle bei Münchweiler an der Alsenz, die zum Bezirksverband Pfalz gehört.
Als Betreuer der Untersuchungen, die im Hofgut Neumühle über eineinhalb Jahren liefen, fanden sich der stellvertretende Leiter Dr. Christian Koch und die Tierärztin Dr. Theresa Scheu. Im Ergebnis sei, laut Bostedt, eine Studie herausgekommen, „die aktueller denn je ist“, liefere sie doch Erkenntnisse, die dem Tierwohl zugutekommen.
Die Frage, die im Fokus stand, war, inwiefern sich verschiedene Haltungsformen der Muttertiere auf den Geburtsvorgang auswirken. Zurzeit verbringen die Schweine 32 Tage vor und nach der Geburt im Kastenstand, dessen Einsatz nun der Gesetzgeber – so die Entscheidung vom Juli – einschränkt: Ab 2021 müssen die schweinehaltenden Betriebe die Haltungsform ihrer Schweine entsprechend anpassen. Ein Mutterschwein darf nur noch fünf Tage in den Kastenstand, der 50 Jahre international mit dem Zweck Verwendung fand, die Gefahr, dass Sauen ihre Ferkel erdrücken, zu mindern. Dies hat immense wirtschaftliche Folgen für die Schweinezüchter, denn künftig können sie nicht mehr so viele Tiere wie bisher in ihren Ställen halten. Und Bostedt sagt: „Damit sind noch längst nicht alle Probleme aus der Welt geschafft.“ Denn bei mehr als der Hälfte der Ferkelgeburten treten Komplikationen auf, die man nicht durch eine andere Haltungsform, sondern nur auf züchterischem Weg in den Griff bekomme. Im Hofgut Neumühle ließ man die Mutterschweine für die Studie in drei verschiedenen Haltungsformen gebären: im Kastenstand, in der Bewegungsbucht und in der Gruppe. Sarah Blim und Desirée Lehn erhoben vier Tage vor und bis eine Woche nach der Geburt 82 Einzelwerte pro Schwein, die während der Geburt Aufschluss über sein Befinden geben, und zwar im Hinblick auf sein Verhalten, seine physiologischen Vorgänge, den Stoffwechsel und die Hormonwerte. Die beiden Doktorandinnen der Universität Gießen waren sich nicht zu schade, für ihre Studien bis an den Rand des Machbaren zu arbeiten, denn eine Abferkelperiode konnte sich auf fünf Tage ausdehnen, bis alle Geburten abgeschlossen waren. Es gelang ihnen, den Geburtsverlauf bei 69 Mutterschweinen der Linie „db.Viktoria“ exakt und in Echtzeit zu protokollieren und Proben (während der Geburt alle 30 Minuten) für spätere Analysen im Labor zu gewinnen. Für die notwendige Blutentnahme setzten sie bei 40 Mutterschweinen einen Dauerkatheter über ein Blutgefäß des Ohres ein, der die Tiere weder irritierte noch behinderte.
Feststellen konnten die beiden durchaus Unterschiede im Hinblick auf die Haltungsformen, denn gegenüber dem Kastenstand verbesserte sich das Wohlbefinden der Muttertiere in der Bewegungsbucht sowie in der Gruppe nachhaltig. In der Bewegungsbucht schütten die Gebärenden beispielsweise das wehenfördernde Hormon Oxytocin in höheren Konzentrationen aus; auch ist dort die Energieversorgung mit Glucose besser, so dass für die Geburt und die spätere Milchbildung mehr Energie zur Verfügung steht. Auch treten in Bewegungsbuchten weniger Genitalverletzungen bei den Sauen auf, da sie wohl bequemere Gebärpositionen einnehmen können.
Insgesamt gesehen beeinflusst die Haltung in der Bewegungsbucht und in der Gruppe den Geburtsvorgang positiv. Allerdings kommt es trotz der verbesserten Haltungsform bei mehr als der Hälfte der Schweine zu Geburtsproblemen, das heißt hier muss der Mensch helfend eingreifen – und „diese Rate ist bei weitem zu hoch“, so Prof. Bostedt. Diese vermehrt auftretenden Komplikationen hätten sich offensichtlich im Laufe der Zucht von Hochleistungsschweinen eingeschlichen, denen man auch nur züchterisch begegnen könne. So sollte man künftig wieder kleinere Wurfgrößen, und nicht eine weitere Steigerung der Ferkelzahl pro Wurf, die momentan bei durchschnittlich 15 bis 17 Ferkeln liege, anstreben. Denn je höher diese Zahl sei, desto mehr würde auch der mütterliche Stoffwechsel beansprucht. Hier scheine eine gewisse Grenze erreicht worden zu sein. Mit der Länge der Geburt steige darüber hinaus die Anzahl totgeborener Ferkel signifikant; auch die Überlebenschance vor allem der schwächeren Jungtiere sinke, denn sie hätten nicht die Kraft und Schnelligkeit zu flüchten, wenn sich die Muttersau hinlegt, so dass sie leichter erdrückt werden könnten. Sarah Blim und Desirée Lehn konnten die meisten Ferkelverluste in den ersten drei Tagen nach der Geburt verzeichnen, was die Basis für die gesetzliche Richtlinie bildet, dass der Kastenstand künftig nur noch in den ersten fünf Tagen zum Einsatz kommen darf. Bostedt ist überzeugt, dass neben der Haltungsänderung eine Auswahl auf die Geburtsstabilität erstrebenswert sei. In der vorgestellten Untersuchung konnte nämlich herausgearbeitet werden, dass die Komplikationen bei Geburten in der Bewegungsbucht oder in der Gruppe zwar individuell gemindert werden konnten, das Grundproblem des häufigen Auftretens von solchen Geburtsstörungen aber durch den Wechsel vom Kastenstand in die freiere Bewegungsmöglichkeiten in dieser Phase nicht nachhaltig genug beeinflusst wurde.
Schlussendlich gebe es, stellte Bostedt fest, noch so viele Fragestellungen, um die Gesundheit und Gebärfreudigkeit der Muttertiere zu verbessern. Weitere Studien wären daher sinnvoll. Daher sei das Hofgut Neumühle „eine wichtige Ressource“ für das Versuchswesen, denn „einen solchen landwirtschaftlichen Betrieb, der der Wissenschaft zugetan ist, gibt es in Deutschland nur selten“. Deshalb wäre es „jammerschade“, wenn man den Schweinbestand dort reduzieren oder gar auflösen würde. Abschließend dankte er der Tönnies-Forschung für die Unterstützung der Studien mit 160.000 Euro. Eingebunden seien auch die Justus-Liebig-Universität Gießen für die biochemischen Analysen, das Leibniz-Institut für Nutztierbiologie in Dummerstorf für die Hormonanalysen sowie das Institut für Tierzucht und Tierhaltung in Kiel gewesen. Doch auch der Verbraucher habe das Tierwohl in der Hand, denn wenn dieser gewillt sei, an der Ladentheke mehr für das Schweinefleisch zu zahlen, könne man den Trend nach einer Ausweitung der Wurfgröße brechen, was neben der Haltungsform eine große Verbesserung für die Tiere und den Schweinezüchtern keine wirtschaftlichen Nachteile bringe. Wer weitere Informationen benötigt, findet interessante Beiträge auf der Homepage des Hofguts Neumühle (www.hofgut-neumuehle.de) oder wendet sich an den stellvertretenden Leiter der Lehr- und Versuchsanstalt für Viehhaltung Hofgut Neumühle, Dr. Christian Koch, Telefon 06302 603-43, c.koch@neumuehle.bv-pfalz.de.
Bu: Ist stolz auf seine beiden Doktorandinnen (von links): Prof. Dr. Dr. Hartwig Bostedt mit Desirée Lehn und Sarah Blim
(Foto: Bezirksverband Pfalz)
Versuche liefen eineinhalb Jahre im Schweinestall des Hofguts Neumühle (von links): Tierärztin Dr. Theresa Scheu, Markus Klaßen, Abteilungsleiter der Lehrwerkstätte Schweinehaltung, Doktorvater Prof. Dr. Dr. Hartwig Bostedt, Doktorandinnen Desirée Lehn und Sarah Blim, Helmut Scheu, Mitarbeiter im Schweinstall und Dr. Christian Koch, stellvertretende Leiter des Hofguts Neumühle
(Foto: Bezirksverband Pfalz)
Viele Mäulchen wollen ran: Mutterschwein beim Säugen ihrer Ferkel
(Foto: Hofgut Neumühle)
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Kaiserslautern, 01.09.2020