Ein Team theoretischer Physiker der TU Kaiserslautern und der University of Manitoba in Kanada hat in aufwendigen numerische Simulationen auf dem Hochleistungsrechner „Elwetritsch“ gezeigt: Quantenteilchen in einer exotischen Nichtgleichgewichtsphase, die als Vielteilchenlokalisierung bezeichnet wird, sind auf langen Zeitskalen – entgegen ursprünglicher Theorien – doch nicht stabil und thermalisieren. Die Ergebnisse der Forschungskooperation wurden kürzlich im Fachjournal Physical Review Letters veröffentlicht und in einem Synopsis Artikel im Journal Physics beschrieben.
Die Welt der Quantenteilchen, die sich auf subatomarer Ebene befindet, folgt ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Deswegen sind Zustände, in denen die Teilchen dort vorliegen, mithilfe der klassischen Physik nur schwer zu erfassen. Eine zentrale Frage, die bis heute offen und vieldiskutiert ist: Gilt das in der klassischen Welt allgegenwärtige Phänomen der Thermalisierung uneingeschränkt auch in der Quantenwelt? Konkret wird mit Thermalisierung der Prozess bezeichnet, bei dem ein kleines Teilsystem eines abgeschlossenen Systems durch Energie- und Teilchenaustausch mit den anderen Teilen in einen durch wenige Parameter beschreibbaren Zustand übergeht, der den universellen Gesetzmäßigkeiten der Thermodynamik genügt.
In den späten 50er Jahren hat der Nobelpreisträger Phillip Anderson zum Beispiel gezeigt, dass nicht wechselwirkende Elektronen in einem ungeordneten Material lokalisiert bleiben, das heißt für alle Zeiten in einem kleinen Raumbereich verharren, anstelle durch das gesamte System zu diffundieren. „Zunächst glaubte man, dass dieser als Anderson-Lokalisierung bekannte Effekt durch Wechselwirkungen zerstört würde, bis ein exotischer Zustand der Materie, die so genannte Vielteilchenlokalisierung (many-body localization oder MBL), entdeckt wurde. Analog zur Anderson-Lokalisierung erwartet man in einer MBL Phase keine Teilchendiffusion“, erklärt Prof. Dr. Michael Fleischhauer, der an der TU Kaiserslautern (TUK) im Fachbereich Physik forscht.
Die theoretische Beschreibung der Langzeitdynamik derartiger wechselwirkender Quantensysteme stellt Forschende immer noch vor großen Herausforderungen – bis heute existiert kein vollständiges Verständnis von MBL. Jetzt hat ein Team von theoretischen Physiker der TUK und der Universität in Winnipeg, bestehend aus Maximilian Kiefer-Emmanouilidis, Dr. Razmik Unanyan, Prof. Jesko Sirker und Prof. Fleischhauer, das bisherige Bild von MBL ins Wanken gebracht. Die numerischen Simulationen der Forscher legen nämlich nahe, dass Teilchen eines Quantensytems mit MBL nicht lokalisieren, sondern unaufhörlich durch das gesamte System diffundieren.
„Um dies zu zeigen, haben wir die sogenannte Teilchenzahl-Entropie numerisch berechnet, das heißt den Beitrag zur Entropie oder vereinfacht gesagt der Unbestimmtheit des Teilsystems, der durch Fluktuationen in der Anzahl der sich hin und her bewegenden Teilchen entsteht“, erläutert Prof. Fleischhauer. „Wenn das System strikt lokalisiert wäre, sollten die Teilchenzahlfluktuationen und damit die zugehörige Teilchenzahl-Entropie sehr schnell einen konstanten, kleinen Wert annehmen. Stattdessen zeigten die Simulationen, dass die Teilchenzahl-Entropie unaufhörlich wächst, wenn auch extrem langsam, proportional zu ln(ln(t)).“ Diese Ergebnisse belegen, dass es entweder einen noch unbekannten Mechanismus gibt, der dazu führt, dass die Systeme erst auf viel größeren Zeitskalen lokalisieren, oder dass MBL im strikten Sinne nicht existiert.
Weiterführende Informationen zu den bereits erfolgten Veröffentlichungen:
M. Kiefer-Emmanouilidis, R. Unanyan, M. Fleischhauer, J. Sirker
Evidence for unbounded growth of the number entropy in many-body localized phases
Phys. Rev. Lett. 124 243601 (2020)
https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.124.243601
Erika K. Carlson
Many-Body Localized States Inch Toward Equilibrium
Physics 13, s80 (2020)
https://physics.aps.org/articles/v13/s80
Bildunterschrift „PM_59_Vielteilchenlokalisierung_Grafik_plus_Team“:
In einem sogenannten vielteilchenlokalisierten Zustand sollten Teilchen, die anfänglich in einem Teil des Systems konzentriert sind, für alle Zeiten in diesem verbleiben. Eine neue theoretische Arbeit legt nun nahe, dass dies nicht so ist, und die Teilchen auf sehr langen Zeitskalen thermalisieren. Das Projektteam (von oben nach unten): Maximilian Kiefer-Emmanouilidis, Dr. Razmik Unanyan und Prof. Dr. Michael Fleischhauer – alle TU Kaiserslautern – sowie Prof. Dr. Jeskao Sirker, Universität Manitoba.
Quelle Text/Bild:
TU Kaiserslautern
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Kaiserslautern: 09.07.2020